Stella Gepperts künstlerische Arbeiten sollen durch die Vermischung von Performance und Installation zwischenmenschliche Verhaltensweisen hinterfragen und Rollenmuster aufbrechen.
Stella Gepperts Arbeiten bewegen sich zwar im Kontext von Körper- und Raumkonzepten – wer dabei jedoch an Happenings denkt, liegt allerdings falsch, denn ihre Arbeiten sind keine von Darstellern ausgeführten und inszenierten Handlungsanweisungen, die in einem konventionellen oder erweiterten Ausstellungskontext dem Publikum dargeboten werden. Sie selbst bezeichnet ihre Arbeiten als Interventionen und ortspezifische Arbeiten. Ihre Interventionen sind oft eher aus dem Zufall heraus entstandene Situationen und wenn sie Objekte entwickelt, sind diese vornehmlich aus eben jenen Situationen und daraus abgeleiteten Handlungen entstanden. Einen Gestaltungsprozess, der losgelöst ist von dieser künstlerischen Strategie, gibt es bei ihr eher selten.
In der Arbeit «When Destruction Becomes New Form» aus dem Jahre 2011 beispielsweise schuf sie durch die unterschiedliche Art und Weise, wie sie eine Briefablage zerstörte – z.B. durch Werfen, Zerschmettern, Zertrümmern, Hämmern – eine jeweils andere, neue und somit quasi dekonstruierte Briefablage. Sie ging dabei der Frage nach, wie sich über Dekonstruktion, die hierbei durchaus auch als positive Kraft verstanden werden soll, Formen wieder rekonstruieren lassen, wie Dekonstruktion rückwirkend auch die Konstruktion bestimmen kann und somit beide über körperliche und räumliche Verfasstheiten in ein Wechselspiel eintreten können.
In diesem Fall war die bei ihr vom bürokratischen System ausgelöste Ohnmacht gegenüber einer immer machtvoller werdenden Administration Grundlage der künstlerischen Arbeit. Die Arbeit begann ursprünglich mit der Erforschung von verschiedenen Benutzungsarten des industriellen Einheitsformats der DIN-Norm im Allgemeinen und mit Briefen im DIN A4-Format im Besonderen. Dessen verschiedene Einsatzmöglichkeiten, die jeweils in unterschiedlichen Ausführungen zirkulieren, rückten in dieser Arbeit die durch administrative Vorgänge ausgelöste Kommunikation in den Fokus, denn erfahrungsgemäß wird ein Ablehnungsschreiben vom Empfänger anders rezipiert als ein auszufüllendes Formular oder ein Bußgeldbescheid. Viele dieser Kommunikationsformen bestimmen darüber, ob und wie es welchen Menschen ermöglicht wird, an der Gesellschaft teilzuhaben. Dialoge sollten Gepperts Meinung nach allerdings auf Augenhöhe ermöglicht werden, damit alle daran Beteiligten nach einem gesellschaftlichen Prinzip der Gleichheit agieren können. Stella Geppert erforscht deshalb durch Kommunikation definierte Gruppenzugehörigkeit und trifft sie dabei auf Missverhältnisse oder Ungleichheiten, mündet dies im weiteren Verlauf der Recherche in eine künstlerische Arbeit.
Ihre neueste Arbeit «Hieroglyphendecke» aus dem Jahre 2015 basiert beispielsweise auf diesen Ideen und auf dem Wunsch, Formen zu entschlüsseln, in denen wir gefangen sind und die das Potential besitzen, auch andersartige Kommunikationsformen als die uns bisher bekannten entwickeln zu können. Die Installation «Hieroglyphendecke» besteht aus zarten, filigranen Vierkantstahlrohren und ist so konstruiert, dass sie einen variablen Innenraum bildet, in dem eine Papierrolle in der Breite von 1,50m bis 2m bis zu drei Metern ausgezogen werden kann. Sie ist höhenverstellbar, so dass man sich in diesem Raum bewegen kann und das Blatt Papier dann die Decke des Raumes darstellt. Die Personen, mit denen die Künstlerin in diese Installation eintaucht, tragen alle eine Haube auf dem Kopf, die in der Verlängerung mit einem Rohr ausgestattet ist, an dessen Ende ein Kohlestückchen angebracht ist. Je nach Größe der Person ist dann das Rohr unterschiedlich lang, um das eingespannte Papier zu berühren und somit zeichnen die Teilnehmer, während sie sich unterhalten und beispielsweise mit dem Kopf nicken, gleichzeitig unbewusst an der Unterseite der Papierrolle. Im Grunde genommen werden also Kommunikationsformen durch Bewegungen innerhalb der Installation ausgelöst und diese dann wiederum durch die Installation protokolliert. So ermöglicht also die «Hieroglyphendecke» für die unterschiedlichsten Gesprächsweisen eine Aufzeichnungsmöglichkeit jenseits von Fotografie oder Film. Die Zeichnungen sollen in einem weiteren Schritt von Stella Geppert auch kategorisiert, dadurch vergleichbar und darüber hinaus analysierbar gemacht werden und im Laufe der Zeit soll aus dieser Sammlung eine «Enzyklopädie der Dialoge» erwachsen.
An der Arbeit «Hieroglyphendecke» lässt sich z.B. das Denken Merleau-Pontys, wie es in seinem Text «Das Auge und der Geist» von 1961 zum Ausdruck kommt, veranschaulichen bzw. neu interpretieren, aufbrechen und radikalisieren. Der Wahrnehmende ist nach Merleau-Ponty seinem Körper verhaftet und Tiefe ist Ausdruck der menschlichen Teilhabe am Sein des Raumes. Orientierung, Polarität und Umhüllung sind vom Raum abgeleitete Phänomene, die an die Gegenwart eines Ichs – also das Ich des Betrachters – gebunden sind. «Sehen ist ein bedingtes Denken»[1], für Merleau-Ponty, d.h. es wird erzeugt durch Stimuli, die der Körper aufnimmt, die er verarbeitet und durch die er somit zum Denken angeregt wird. Das Zentrum räumlicher Wahrnehmung ist also der eigene Körper bzw. der Ort, den der Körper sozusagen im Raum bewohnt. Der Körper wird darüber hinaus als Ursprungsraum für die Seele und zugleich als Matrix für jeden anderen wirklichen Raum gesehen. Wir sind ein Konvolut von Körper und Seele und wir müssen aus dieser Position heraus und aus dem Wissen um unsere Grundlagen denken. Der Raum wird deshalb nach Merleau-Ponty vom Individuum her – quasi als Nullpunkt der Räumlichkeit – erfasst.
Das Vorangegangene auf die Arbeit «Hieroglyphendecke» zu übertragen heißt nun, dass zum einen von der Künstlerin zunächst ein konkreter Ort geschaffen und durch die Konstruktion ein Raum eröffnet wird, der nicht nur an die Gegenwart der Teilnehmer gebunden ist, sondern der durch sie erst überhaupt aktiviert werden kann. Wenn Sehen nach Merleau-Ponty also bedingtes Denken ist, dann geht «Hieroglyphendecke» zunächst von der umgekehrten Stoßrichtung aus: Die Stimuli – also die visuellen Zeichen – werden zunächst im Raum und aus den Körpern heraus geschaffen, nämlich durch die Zeichenkohle an den Hauben der Teilnehmer, die ihre Spuren am eingespannten Papier hinterlassen. Zeichen entstehen in diesem Fall überhaupt erst durch die Seele und ihr Denken mittels des Körpers im Raum. Das Denken selbst also hinterlässt visuelle Spuren, und macht in diesem Falle das Netz der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Teilnehmern sichtbar. Somit ist also in diesem Fall nicht «das Sehen […] ein Denken, das streng die im Körper gegebenen Zeichen entziffert»[2], wie es bei Merleau-Ponty heißt, sondern das Denken im Körper gebiert erst die Zeichen, welche dann in einem weiteren Schritt durch das Sehen mit der Seele wieder zu entziffern sind.
In den künstlerischen Arbeiten Stella Gepperts geht es desweitern aber immer auch um Verortung, um grundsätzliche Fragen wie «Wo bin ich?» und «Weshalb tue ich etwas?» und um die Aneignung von vielschichtigen Gefügen und Raumbeziehungen, aber auch wie ein Ort entsteht, zu dem Menschen gehen, in dem sie bestimmte Praktiken vollziehen oder aber ihn vermeiden – anders gefragt, welche Erzählungen sich hinter Orten verbergen oder die z.B. nach Michel de Certeau einen Ort überhaupt erst zu einem Raum machen. De Certeau unterscheidet nämlich zwischen Raum und Ort: Ort ist bei ihm eine Bezeichnung für Beziehungsverhältnisse und die Beschreibung für jene Verhältnisse der einzelnen Elemente. «Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. […] Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt.»[3] Raum ist also im Gegensatz zum Ort ein Geflecht, welches aus und zwischen den Elementen besteht, die an bestimmten, fest definierbaren Orten vorhanden sind. Diese Elemente sind in Bewegung und sie erfüllen den Raum, der durch deren Aktivitäten eine Richtung erhält und somit auch eine Zeitlichkeit. Räume entbehren also der Eindeutigkeit und der Stabilität; sie werden erst durch die Aktionen von historischen Subjekten begründet, während Orte bereits durch reine Anwesenheit von Objekten definiert werden.[4] Die reine Stahlrohrkonstruktion würde danach zwar einen Ort definieren, aber zu einem Raum wird die Installation erst durch die teilnehmenden Personen. Also haben menschliche Subjekte im Grunde genommen bei allem, was sie tun, sei es z.B. das Gehen und jegliche Form der alltäglichen Handlung, im mikrokosmischen Sinn an Raumbildung teil, wobei de Certeau bei jedem einzelnen Individuum ansetzt.
Michel Foucault hingegen geht davon aus, dass der Raum sich über festgelegte architektonische, den Menschen in seinen Verhaltensweisen einschränkende oder limitierende Formationen existiert. Denn für ihn leben wir «innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.»[5] Er interessiert sich v.a. für Orte, die mit allen anderen Orten in Verbindung stehen, und zwar auf eine Art und Weise, dass sie «sich auf alle anderen Platzierungen […] beziehen, aber dass sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren.»[6] Diese Räume teilt Foucault in zwei Gruppen ein: Zum einen in Utopien, die er als Orte ohne realen Ort definiert und die in einem Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen, d.h. sie können das vervollkommnete Bild oder auch das Gegenbild der Gesellschaft sein, aber sie bleiben irreale Räume. Zum anderen macht er in unserer Kultur aber auch reale, wirkliche Orte aus, die allerdings dennoch Gegenorte darstellen, welche tatsächlich verwirklichte Utopien repräsentieren. Diese Gegenorte nennt er Heterotopien, und es sind «wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.»[7] Heterotopien werden von Foucault als völlig anders als jene Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, eingestuft. Ihre Verbindung finden die Utopien und die Heterotopien im virtuellen Raum, der für Foucault vom Spiegel hergestellt werden kann. So schreibt er: «der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück».[8]
Der Spiegel als Arbeitsmaterial taucht auch in einigen raumbezogenen Arbeiten von Stella Geppert auf, so z.B. in der Rauminstallation «Bist du da?», die sie 2007 im Künstlerhaus Bremen präsentierte. Dafür wurde der Raum mit einer Holzkonstruktion durchzogen, die den Grundriss des Gebäudes, das vormals als industrielle Produktionsanlage genutzt wurde, in ihrer Struktur wieder aufgriff. Diese Holzkonstruktion war teilweise mit Spiegeln verblendet, welche ihrerseits kreisrunde Öffnungen aufwiesen oder die herausgenommenen, runden Spiegel präsentierte. Hierbei kreierte Stella Geppert einen Raum, der letztendlich erst durch den Betrachter, der entweder sich in den Spiegeln erblickt oder in den Durchbrüchen der Spiegel die anderen, aktiviert wird und der die Grenzen zwischen der Installation, die sich einer Sphäre der Kunst befindet und dem eigentlichen architektonischen Ausstellungsraum verwischt. Die Raumsituation wurde also mit dem Ziel entwickelt, in ihm die Energien der Betrachter zu kreuzen und zu multiplizieren. Durch die Konstruktion neuer räumlicher Ebenen, den Einsatz von Spiegelelementen und der Enthüllung bestehender Strukturen verstrickt sie den Besucher der Ausstellung in ein Labyrinth neuer Sinneseindrücke. Dies soll ihn an seinem eigenen Standpunkt zweifeln lassen und ihn in einen Zustand versetzen, der zwischen An- und Abwesenheit changiert. Bzw. um genau zu sein: Zwischen einer konkreten Anwesenheit im räumlich verorteten Hier-und-Jetzt des tatsächlich gegebenen Raumes und der abwesenden Anwesenheit im virtuellen Spiegelraum, in dem sich Utopie und Heterotopie kreuzen.
Dieser Arbeitsweise von Stella Geppert liegt ein performativer Ansatz zugrunde, der schließlich auch einen ebensolchen Umgang mit dem entstanden Werk provoziert. Dazu begab sie sich in diesem Fall an den Ausstellungsort und studierte intensiv die eigenen und fremdbestimmten Tätigkeiten und Bewegungen, um sie innerhalb des Raumes einzufangen. Auf diese Weise wird darüber hinaus die Verortung der Menschen in diesem speziellen Raum thematisiert, d.h. deren Beziehungsgeflecht zu ihm, seinen Objekten und auch zueinander. Bei «Bist du da?» betraf dies einen konkreten Ort und es entstand daraus eine Situation, die als Versuchsanordnung angesehen werden kann. Die Künstlerin gab durch ihren Eingriff in ein bestehendes Raumgefüge und durch das Entwerfen einer Situation lediglich den Anlass zur Neupositionierung und Interpretation der Veränderungen durch die Betrachter – das Werk zu vollenden bleibt somit ihnen überlassen.
Stella Geppert möchte mit ihren Arbeiten darüber hinaus Handlungen, die nicht konventionell aufgezeichnet werden können und die architektonisch, plastisch, bildhauerisch nicht festzuhalten sind, in eine bestimmte räumlich gestaltete Form bringen. Dabei versucht sie außerdem, der Grundmotivation von Handlungen nachzugehen, denn es geht ihr ferner um das Aufbrechen von festgelegten rollenspezifischen Verhaltensweisen. Sie beschreibt dies selbst folgendermaßen: «Ich bin eine Archäologin der Kommunikation. Ich erlebe Momente der Begegnung oder der Übereinstimmung in kommunikativen Zusammenhängen als architektonische Form. Und frage mich, wie ich dafür eine plastische Form entwickeln kann, die wiederum dazu motiviert, anders zueinander in Beziehung und damit auch anders miteinander in Kommunikation zu treten. Wenn wir z.B. alle mit Stöpseln auf dem Kopf herumlaufen würden und alle unsere Bewegungen in den Gesprächen aufzeichnen könnten, unabhängig eines Status’, den wir bekleiden, oder einer Rolle, die wir meinen ausfüllen zu müssen, dann würde die Verständigung untereinander sicher anders aussehen. Ich mache diese künstlerischen Arbeiten zwar nicht, damit sich die Gesellschaft konkret verändert, aber zumindest aus dem Wunsch heraus, dass zwischenmenschliche, festgelegte Verhaltensweisen ins Wanken geraten und aufgebrochen werden.»[9]
Die Künstlerin Stella Geppert lebt in Berlin und entwickelt in ihren Arbeiten raumbezogene und performative Konzepte, Installationen und Objekte. Sie studierte in Berlin an der Universität der Künste (UdK) und lehrte danach an der UdK, der Technischen Universität Berlin und der Kunsthochschule Braunschweig. 2013 war sie Stipendiatin des Deutschen Studienzentrums Venedig und seit 2010 ist sie Professorin für Experimentelle Bildhauerei und Körper- und Raumkonzepte an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle.
[1] Merleau-Ponty, Maurice: «Das Auge und der Geist» in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 187.
[2] Ebd, S. 182.
[3] Certeau, Michel de: «Praktiken im Raum», in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 345.
[4] Ebd., S. 346.
[5] Foucault, Michel: «Andere Räume» in: Engelmann, Jan (Hg.): Michel Foucault. Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader. Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, S. 148.
[6] Ebd., S. 149.
[7] Ebd.
[8] Ebd., S. 149 f.
[9] Interview mit Stella Geppert, geführt vom Autor an Pfingsten 2015.