«Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche»

Ausgraben, Ansammeln und Archivieren als künstlerische Praktiken

Künstlerische Kreativität und Schöpfungswille als alleiniger Ursprung eines Werkes und Anstoß zur materiellen Manifestation einer Idee, die vorher nur immateriell in der Gedanken­welt eines Menschen existierte – und am besten noch durch den sinnlichen und körper­lichen Kuss einer Muse zum Leben erweckt wurde – diese Art und Weise, Neues in die Welt zu bringen, scheint für viele nur noch als idealisierte Wunschvorstellung in den Köpfen einiger nostalgischer Träumer zu existieren.

Spätestens seit Marcel Duchamp mit der simplen – und wie manche behaupten darüber hinaus surrealen – Geste, ein seriell hergestelltes und für die vertikale Aufhängung be­stimmtes Industrieprodukt in die Horizontale umzulegen, zu betiteln und zu signieren, um so neue Bedeutungsebenen zu schaffen, darauf verzichtet hat materiell Neues zu pro­duzieren, kommt dem Künstler eine andere Rolle als bis dahin allgemein üblich zu: Er scheint sich in derartigen künstlerischen Praktiken von der Rolle des Schöpfers von materiellen Artefakten zu lösen und eher in die eines intellektuellen Urhebers zu wechseln, der u.a. mit parawissenschaftlichen Methoden die materielle Welt erkundet. [2] Dies kann wie im oben genannten Beispiel durch das Auslesen von Zeichen und eine semantische Neudeutung zur Aufdeckung der Arbitrarität des Forschungsgegenstandes geschehen, der im Fall von Duchamps Fountain eigentlich zum absaugen von Abwasser produziert wurde und nun potentiell durch Ausspucken von Flüssigkeiten zur Quelle wird, oder wie bei den 3 stoppages étalon, bei denen ein vom Künstler gesetzter Versuchsaufbau durch eine serielle, empirisch arbeitende Forschungsarbeit unterschiedliche visuelle Ergebnisse auswirft, die dann zum eigentlichen Werk weiter verarbeitet werden können.[3]

In diesen beiden Beispielen werden unterschiedliche Arbeitsweisen deutlich: Eine, die wie im ersten Fall geschildert geisteswissenschaftlich operiert, und diejenige, welche sich wie im zweiten Fall beschrieben, an naturwissenschaftlichen Methoden orientiert. Damit bewegt sich der Künstler auf einem Feld, das dem des Archäologen nicht unähnlich ist, der in seiner Vorgehensweise natur- und geisteswissenschaftliche Verfahren kombiniert und seine Ergebnisse in einem Archiv auf repräsentative Weise fruchtbar macht.[4]

Als Keimzelle einer künstlerischen Arbeit, die oft auch als «künstlerische Forschung» bezeichnet wird,[5] dient sowohl dem klassisch produ­zierenden als auch dem lediglich nach Material zur Weiter­verarbeitung suchenden Künstler – in den meisten Fällen werden diese beiden Varianten künstlerischer Arbeit fluktuierende Pole sein, zwischen denen sich die entsprechenden künstlerischen Methoden verorten lassen – im Idealfall ein Atelier als Ausgangspunkt und räumlicher Rückzugsort seiner Unter­suchungen. Hier werden unabhängig von der künstlerischen Strategie Materialien gelagert, Arbeiten erstellt und nach Fertigstellung dokumentiert.[6] Dabei kann die Archivierung von künstlerischen Materialien selber wieder zur Strategie werden und auf zum Teil unkonven­tionelle Weise unmittelbar Objekte hervorbringen, denen Werkcharakter zugeschrieben wird, wie z.B. bei den Time Capsules von Andy Warhol. Er sammelte Zeitschriften, Quellen­material, Korrespondenz und Kleidung gemischt in Kartons und sobald sie gefüllt waren, verschloss er diese, beschriftete sie mit dem Datum und begann eine neue Kiste. Von 1974 an füllte er auf diese Weise 600 Pappschachteln, die nun Jahrzehnte später sukzessive von Archivaren und anderen Angestellten des Andy Warhol Museums in Pittsburgh bei öffentlichen Veranstaltungen vor Publikum geöffnet werden.[7] Hierbei geht es nicht um die kohärente Kategorisierung von Gegenständen und der Herstellung eines Bezugs unter­einander oder gar einer Deutung, sondern lediglich darum, eine gewisse Zeitspanne in der sie charakterisierenden materiellen Kultur einzufangen und in Kisten verstaut wegzu­schaffen. Es ist dies weniger eine an wissenschaftliches Arbeiten angelehnte Methode, sondern mehr ein simpler – aber zugegebenermaßen effektiver – Versuch, einer über­bordenden Masse an Materialien gegen­über wieder Herr im eigenen Hause zu werden und sie in blickdichte Kisten verpackt schlicht­­weg zu verdrängen.

Als eher paradoxer Kommentar zum Archiv dagegen ist die Installation Eine Ansamm­lung von Gegenständen von Peter Fischli und David Weiss zu verstehen.[8] Sie präsentierten unter diesem Titel einen kompletten Lager- und Arbeitsraum. Darin abgestellt befinden sich allerdings nur Nach­bildungen aus Kunststoff von Gegen­ständen aller Art – und eben gerade keine readymades wie bei Duchamp – , die sich in den letzten dreißig Jahren im Atelier der Künstler angesammelt haben und die hier nun neu arrangiert werden. Der Besucher kann diesen Raum außerdem nicht selbständig begehen, sondern nur einzeln begutachten, nachdem er an eine Tür, die sich nur einen Spalt breit öffnen lässt getreten ist. Von seiner Perspektive sehen die Objekte funktionstüchtig aus, obwohl sie nur dazu dienen, in einer spielerischen Weise betrachtet zu werden.[9]

Vielleicht könnte man in dieser Installation – etwas spekulativ betrachtet – ein Anliegen Foucaults versinnbildlicht sehen, wenn er fragt: «Wie ist es möglich, dass sich reale und wahrgenommene Dinge im inneren eines Diskurses durch Worte artikulieren lassen?»[10] Eine mögliche Antwort darauf mit den Mitteln der Kunst könnte sein: Mit Humor! Vielleicht wäre diese Lösung sogar von ihm nicht als komplett abwegig beurteilt worden, denn er gibt zu – oder zumindest vor ­–, dass der Titel Les mots et les choses «ganz und gar ironisch» sei.[11]

Zumindest könnte der Diskurs dadurch weiterhin zirkulieren und sich entfalten, so wie das Archiv es tut. Denn die archival art ist nicht nur das Sammeln im Sinne einer preproduction gekennzeichnet, sondern durch das physische Verfügbarmachen von Informationen, die oft verloren oder verschüttet waren und in der postproduction des Künstlers durch das Format der Installation wieder für den Betrachter verfügbar gemacht werden, wie Hal Foster[12] schreibt. Laut ihm geht es der archival art weniger um den absoluten Ursprung eines Konzeptes oder eines Produktes als vielmehr um die ver­schleierten Spuren, welche die jeweiligen Ideen hinterlassen haben. Der Künstler wird geleitet von dem Bedürfnis, die Verspätung des bereits Existierenden in die Verheißungen des Kommenden umzuwandeln und in der Präsenz des Archivs eine Utopie aufscheinen zu lassen. In diesem Sinne ist er hier weniger dem Diktat der Originalität und den Zwängen der Autorschaft unterlegen, als vielmehr auf der Spur eines anarchival impulses[13], also eines sich fortlaufend zerstörenden, aber immer wieder neu konstituierenden und anti-hierarachischen räumlichen Beziehungsgefüges, das sich deutlich von dem abgeschlossenen Programm eines Museums unterscheidet, weil seine Regeln jederzeit zusammen brechen können, um daraufhin wieder neu errichtet zu werden.

Die Arbeitsweisen der archivial art gehen Hand in Hand mit einer Dematerialisierung von künstlerischen Arbeitsweisen, wie sie sich am deutlichsten in der Konzeptkunst zeigen und die über das Ausbrechen aus der Materie und mit der Hinwendung zum Konzept der Idee hinaus anstreben, die Hierachisierungen im Kunstbetrieb unter­wandern. Dies wird nicht nur in den Arbeiten selber deutlich, wie z.B. in der Strömung der arte povera, die bevorzugt einfache und die in der Bezeichnung erwähnten «armen» Materialien verwendet, sondern auch in der Art und Weise, wie diese kuratorisch kompiliert und präsentiert werden. Die amerikanische Kuratorin Lucy R. Lippard steht modellhaft für eine kuratorische Praxis, bei der die Grenzen zwischen Künstlern und Kuratorin verwischen – so übernehmen bei ihr auch Künstler kuratorische Aufgaben und sie nahm selber auch an den von ihr kuratierten Ausstellungen teil.[14] Ein wichtiges Vermittlungselement der Ausstellungen, die oft aus textbasierten Werken und linguistischen Propositionen[15] bestanden, waren die Kataloge. Diese bestanden bei Lippards numbers shows aus Indexkarten, die frei gemischt und so durch den Betrachter bzw. Leser immer wieder neu konfiguriert werden konnten. Der Betrachter ist somit nicht nur werk­konstituierend, sondern darüber hinaus auch bedeutungskonstituierend und unterwandert somit wie von den Künstlern beabsichtigt die Ansätze einer repräsentativen Kunst, gegen die sich die Konzeptkunst mit ihren politischen Ansprüchen wendet, die teilweise sogar das Künstleratelier als «privilegierte Handlungsstätte»[16] zur Diskussion stellen.

Sowohl der Kurator, als auch der Besucher stehen von nun an immer öfter in der Position eines Archäologen, der beim Zusammentragen bzw. Betrachten der Ausstellung, welche die Qualitäten eines Archivs aufweist, in dem sich die verschiedenen Diskurse treffen, zwar die Vergangenheit im Moment des Auffindens nicht zerstört, aber zumindest die mediale Repräsentation neu konstruiert.[17] Er wird somit zu einem Spurenleser, der – ganz im Sinne der Kennerschaft à la Morelli[18] – die Bedeutung, die über verschiedene Artefakte und Kunstwerke dezentral verstreut ist, erst immer wieder neu aus den konkreten Relationen und Eindrücken entstehen lassen muss.

Die Konzepte der «Spur» und des «Eindruckes» wurden am Anfang des 20. Jahrhunderts ebenso in der Psychoanalyse wirksam, die großen Einfluss auf die Surrealisten ausübte, da diese der Vernunft skeptisch gegenüber eingestellt waren. «Der Mensch war also nicht nur der Gefangene der Natur und dessen, was er ihr abgerungen hatte, sondern auch Gefangener seiner selbst. Er hatte sich seinen Geist wie eine ägyptische Mumie mit Binden fest umwickelt, so daß er allmählich daran erstickte. Weg mit den Vernunftschlüssen, weg mit den Folgerungen, weg mit den formalistischen Beweisführungen […], weg mit Ursache und Wirkung!»[19] Sie waren offen für das Wiederentdecken von Verschüttetem, was für sie auch in der alltäglichen Handlung eines Flohmarktbesuches zum Ausdruck deutlich werden konnte. Hier stießen sie auf unerwartete Objekte, die zum Ausgangspunkt ihrer Werke wurden – ganz dem Motto Picassos entsprechend: «Ich suche nicht, ich finde.» Das Konzept des Flohmarkt könnte metaphorisch als das materialisierte kollektive Unbewusste der jeweiligen Zeitgenossen gesehen werden, das verschüttetes und verdrängtes Material wieder an die Oberfläche spült und bei dem das von Lautréamont gepriesene «zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch»[20] durchaus auch konkrete Realität annehmen könnte.

Von den Surrealisten im 20. Jahrhundert bis zu den «Spekulativen Realisten» im 21. Jahrhundert hält die Kontroverse zwischen den Disziplinen weiterhin an. So optiert Graham Harman optiert in seinem Band Der dritte Tisch [21] nicht für den im Vorwort zu Les mots et les choses erwähnten Operationstisch[22] als Plattform, auf der sich Unter­suchungs­gegen­stände treffen, sondern für den im Titel erwähnten dritten Tisch, der auf C. P. Snows These der «zwei Kulturen»[23] anspielt. Er hält die zwei Tische Eddingtons, welche die Natur- und Geisteswissenschaften repräsentieren sollen, beide für «komplette Täuschungen» [24] und macht als «realen Tisch» den dritten Tisch aus, der zwischen diesen beiden liegt und plädiert für diesen als eine «dritte Kultur», welche die Kultur der Kunst sein könnte[25]: «Doch was wäre, wenn das Gegenprojekt der nächsten vier Jahrhunderte darin bestünde, die Philosophie in eine Kunst zu verwandeln? Wir würden Husserls «Philosophie als strenger Wissenschaft» eine «Philosophie als kraftvolle Kunst» vorziehen.»[26]

Oder um es mit den Worten Marcel Duchamps zu sagen, ist «Kunst das einzige, was Leuten übrig bleibt, die der Wissenschaft nicht das letzte Wort überlassen wollen.»[27]


Bild: © Peter Fischli and David Weiss: «Eine Ansammlung von Gegenständen», Sprüth Magers, Berlin, 2. Mai – 30. August 2014 | Courtesy of Sprüth Magers, Berlin


[1] von Hofmannsthal, Hugo: «Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche», in: von Hofmannsthal, Hugo: Das Schwierige, 1921
[2] Vgl. Bippus, Elke: Autorschaft in künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung. In: Caduff, Corina; Wälchli, Tan (Hg.): Autorschaft in den Künsten. Konzepte – Praktiken – Medien (Zürcher Jahrbuch der Künste), Zürich, 2007, S. 34-45.
[3] Tate Liverpool: Marcel Duchamp 3 stoppages étalon (3 Standard Stoppages), 1913–14, replica 1964, http://www.tate.org.uk/ art/ artworks/ duchamp-3-stoppages-etalon-3-standard-stoppages-t07507, abgerufen am 22.06.2014.
[4] Vgl.: Ebeling, Knut: Die Mumie kehrt zurück II. Zur Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Kunst und Medien, in: Altekamp, Stefan; Ebeling, Knut (Hrsg.): Zur Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Kunst und Medien, Frankfurt/Main: Fischer, 2044 (sic!), S. 9 – 30.
[5] Vgl. Bippus, Elke: Autorschaft in künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung. In: Caduff, Corina; Wälchli, Tan (Hg.): Autorschaft in den Künsten. Konzepte – Praktiken – Medien (Zürcher Jahrbuch der Künste), Zürich, 2007, S. 34-45.
[6] Vgl.: Sjöholm, Jenny: The art studio as archive: tracing the geography of artistic potentiality, progress and production, Cultural Geographies 2014 21: 505 originally published online 28 January 2013.
[7] the warhol: OUT OF THE BOX: Time Capsule opening, http://www.warhol.org/ responsive/ event.aspx?id=22765, abgerufen am 22.06.2014.
[8] Sprueth Magers: Peter Fischli David Weiss, http://www.spruethmagers.com/ exhibitions/ 365@@press_de, abgerufen am 22.06.2014.
[9] Ebd.
[10] Foucault, Michel: Michel Foucault erkärt sein jüngstes Buch, S. 55.
[11] Ebd.
[12] Vgl.: Foster, Hal: An Archival Impulse, in: Merewether, Charles (Hrsg.): The Archive, Documents of Contemporary Art Series, Cambridge, London: MIT Press und Whitechapel Gallery, 2006, S. 143 – 148.
[13] Siehe auch: Derrida, Jacques; Prenowitz, Eric: Archive Fever: A Freudian Impression, in: Diacritics, Vol. 25, No. 2 (Summer, 1995), Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1995, S. 14.
[14] Vgl.: Buchmann, Sabeth: Introduction – From Conceptualism to Feminism, in: From Conceptualism to Feminism – Lucy Lippard’s Numbers Shows 1969-74, London: Afterall Books, 2012, S. 8 – 15.
[15] Vgl.: Buchmann, Sabeth: Conceptual Art, in: Butin, Hubertus: DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: DuMont, 2002, S. 49 – 53.
[16] Ebd.:, S. 51.
[17] Vgl.: Ebeling, Knut: Die Mumie kehrt zurück II. Zur Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Kunst und Medien, in: Altekamp, Stefan; Ebeling, Knut (Hrsg.): Zur Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Kunst und Medien, Frankfurt/Main: Fischer, 2044 (sic!), S. 9 – 30.
[18] Vgl.: Ginzburg, Carlo: Spurensicherung, Berlin: Wagenbach, 2000, S. 7 – 57.
[19] Nadeau, Maurice: Geschichte des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986, S. 18.
[20] Comte de Lautréamont, https://de.wikipedia.org/wiki/Comte_de_Lautréamont, abgerufen am 23.06.2014.
[21] Vgl.: Harman, Graham: The Third Table/ Der dritte Tisch, Ostfildern: Hatje Cantz, 2012.
[22] Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1994, S. 18.
[23] Vgl.: Snow, Charles Percy: [Die zwei Kulturen: Ein Nachtrag], in: Wirth, Uwe: Kulturwissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008, S. 289 – 295.
[24] Harman, Graham: The Third Table/ Der dritte Tisch, Ostfildern: Hatje Cantz, 2012, S. 19.
[25] Ebd.
[26] Ebd., S. 29.
[27] Daniels, Dieter: Duchamp und die anderen: der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne, Köln: DuMont, 1992, S. 261 f.